Globale Instabilität hat tiefere Wurzeln

Erschienen im Standard, am 25.05.2025

In einer Welt voller Unruhen und politischer Verwerfungen suchen wir oft nach einfachen Erklärungen und personifizierten Schuldigen. Doch die Ursachen der globalen Instabilität liegen tiefer und sind struktureller Natur: Die weltweite wirtschaftliche Stagnation erweist sich als Haupttreiber der heutigen gesellschaftlichen und politischen Krisen.

Die globale Krisensituation

Von Wien bis Berlin, von London bis Neu-Delhi – weltweit befinden sich Regierungen in der Defensive. Die Demokratien erleben eine beispiellose Welle der Unzufriedenheit mit den etablierten politischen Kräften. Selbst autoritäre Systeme wie China kämpfen mit wachsender sozialer Unruhe und wirtschaftlichen Problemen.

In Österreich spüren wir diese Entwicklungen besonders deutlich: Als kleine, exportorientierte Volkswirtschaft im Herzen Europas sind wir von globalen wirtschaftlichen Verwerfungen unmittelbar betroffen. Die aktuellen handelspolitischen Spannungen und die Neuordnung internationaler Wirtschaftsbeziehungen treffen heimische Unternehmen direkt.

Die wahre Ursache: Wirtschaftliche Stagnation

Die Suche nach den Ursachen der aktuellen weltweiten Verwerfungen liefert zahlreiche Erklärungsansätze. Einige Beobachter machen den rasanten gesellschaftlichen Wandel verantwortlich – insbesondere im Spannungsfeld von Migration, Identitätspolitik und kulturellen Wertverschiebungen. Diese Entwicklungen hätten, so die Argumentation, konservative Gegenreaktionen ausgelöst, die sich zunehmend in politischen Polarisierungen manifestieren.

Andere verweisen auf die mangelhafte Krisenbewältigung der politischen Eliten während der Covid-19-Pandemie. Ihr Versagen, transparente und tragfähige Strategien zu entwickeln, habe das Vertrauen in die Institutionen untergraben – mit der Folge, dass autoritäre Tendenzen und Anti-Establishment-Stimmungen zunehmend Zulauf erhielten.

Ein weiteres Element der Analyse betrifft die Rolle der sozialen Medien. Durch personalisierte Algorithmen und mangelnde Regulierung bieten diese Plattformen einen fruchtbaren Nährboden für die rasante Verbreitung von Desinformation und Verschwörungstheorien – ein Umstand, der politische Diskurse zunehmend destabilisiert.

All diese Faktoren tragen zweifellos zur gegenwärtigen Instabilität bei. Doch jenseits der kulturellen und kommunikativen Erschütterungen liegt eine strukturelle Kernursache, die allzu oft übersehen wird: das weltweit stagnierende Wirtschaftswachstum.

Seit den 1970er Jahren verlangsamt sich das ökonomische Wachstum in vielen Industrie- und Schwellenländern – ein Trend, der durch die globale Finanzkrise 2008 zusätzlich an Schärfe gewann. Produktivitätseinbrüche, demografischer Wandel und eine Überalterung der Erwerbsbevölkerung verstärken die Wachstumsschwäche. Die Konsequenzen sind tiefgreifend: Wenn Volkswirtschaften über längere Zeit kaum noch in der Lage sind, breiten Wohlstand zu schaffen oder ihn gerecht zu verteilen, geraten auch soziale und politische Ordnungen unter Druck.

Diese ökonomische Erosion bildet den Nährboden für globale Spannungen – von wachsender Ungleichheit bis zu gesellschaftlicher Fragmentierung. Die wirtschaftliche Stagnation ist damit weit mehr als ein makroökonomisches Problem: Sie ist ein Katalysator für die Unruhe unserer Zeit.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Acht der G20-Volkswirtschaften sind seit 2007 inflationsbereinigt um weniger als zehn Prozent gewachsen. Für Österreich zeigen aktuelle Wirtschaftsdaten, dass das reale BIP-Wachstum im Zeitraum 2022 bis 2025 im Durchschnitt deutlich unter den historischen Werten liegt. Beispielsweise lag das reale BIP-Wachstum 2023 bei Minus ein Prozent, 2024 bei Minus 1,2 Prozent und wird für 2025 mit Minus 0,3 Prozent prognostiziert. Das durchschnittliche jährliche Wachstum der letzten zehn Jahre lag damit bei etwa 1,2 Prozent, während es historisch zwischen 2,5 und 3 Prozent betrug.

Was bedeutet das konkret? Während frühere Generationen mit einer Verdoppelung ihres Wohlstands alle 25 bis 35 Jahre rechnen konnten, dauert dies heute 70 bis 100 Jahre. Eine Zeitspanne, die weit über die persönliche Lebenserfahrung hinausgeht und damit das gesellschaftliche Fortschrittsversprechen grundlegend infrage stellt.

Warum stagniert die Weltwirtschaft?

Deindustrialisierung und Strukturwandel

Der Wandel von Produktions- zu Dienstleistungsgesellschaften bremst das Produktivitätswachstum fundamental. In Österreich sank der Anteil der Industrieproduktion am BIP von etwa 30 Prozent in den 1990er Jahren auf heute rund 22 Prozent. Die Automatisierung in der Produktion ermöglichte einst rasante Produktivitätssteigerungen – ein Beispiel ist die Voestalpine, die heute mit weniger als halb so vielen Beschäftigten deutlich mehr Stahl produziert als in den 1980er Jahren.

Im Dienstleistungssektor hingegen ist diese Art der Effizienzsteigerung schwieriger: Mehr Gäste in einem Wiener Kaffeehaus erfordern in der Regel auch mehr Personal. Die Möglichkeiten, durch technischen Fortschritt oder Prozessoptimierung den Personaleinsatz unabhängig von der Anzahl der Kundinnen und Kunden zu reduzieren, sind hier häufig begrenzt – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen und mit jeweils eigenen Herausforderungen.

Demografische Entwicklung

Österreich teilt mit vielen Industrienationen das Problem einer alternden Gesellschaft. Mit einer Geburtenrate von 1,31 Kindern pro Frau – deutlich unter dem Reproduktionsniveau von 2,1, das nötig wäre, um die Bevölkerung ohne Zuwanderung stabil zu halten – schrumpft unsere Erwerbsbevölkerung kontinuierlich. Laut Statistik Austria wird bis 2040 der Anteil der über 65-Jährigen von heute 19 auf 28 Prozent steigen.

Die wirtschaftlichen Folgen sind gravierend: Weniger Arbeitskräfte bedeuten kleinere Binnenmärkte und höhere Sozialausgaben. Das österreichische Pensionssystem verschlingt bereits über 14 Prozent des BIP – einer der höchsten Werte in der EU.

Veränderte Unternehmensstrategien

In diesem Umfeld haben viele Unternehmen ihre Prioritäten verschoben. Anstatt in Expansion und Innovation zu investieren, fließen Gewinne vermehrt in Aktienrückkäufe und Dividenden. Dieser Trend zeigt sich weltweit deutlich: Die Dividendenausschüttungen der börsennotierten Unternehmen haben sich seit 2010 mehr als verdoppelt.

Welche Lösungsansätze gibt es?

Die KI-Hoffnung

Manche setzen auf Künstliche Intelligenz als wirtschaftlichen Katalysator. Österreichische Vorzeigeunternehmen wie A1 haben bereits erheblich in KI investiert. Doch bisher sind die Produktivitätsgewinne begrenzt – der breite wirtschaftliche Durchbruch steht noch aus. Gerade bei vielen österreichischen KMUs überwiegt daher die Skepsis: Obwohl das Potenzial von KI groß ist, fehlen bislang überzeugende Beispiele für messbare Erfolge im Alltag.

Reindustrialisierung

Die Rückgewinnung industrieller Kapazitäten steht heute auch in Österreich auf der politischen Agenda. Die Bundesregierung hat ein 700-Millionen-Euro-Paket für die Halbleiterindustrie geschnürt. Doch moderne Produktionsstätten wie die neue Boehringer Ingelheim Fabrik in Wien schaffen mit Milliardeninvestitionen vergleichsweise wenige Arbeitsplätze. Das zeigt: Reindustrialisierung kann zwar technologisch und strategisch sinnvoll sein – etwa zur Sicherung von Versorgungssouveränität – sie löst aber nicht automatisch die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt oder sorgt für breite Wohlstandsgewinne.

Demografische Maßnahmen

Österreich hat mit dem Familiengeld und steuerlichen Entlastungen für Familien versucht, die Geburtenrate zu steigern – bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Die Statistik zeigt sogar einen leichten Rückgang der Geburten in den letzten Jahren.

Die Migration bleibt ein wichtiger Faktor für das österreichische Wirtschaftswachstum. Laut Studien trug die Zuwanderung im letzten Jahrzehnt signifikant jährlich zum BIP-Wachstum bei. Allerdings bleibt das Thema politisch umstritten, und die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt nicht immer optimal – die Arbeitslosenquote bei Migranten liegt häufig deutlich über dem Durchschnitt.

Zwei realistische Lösungsansätze

Gezielte öffentliche Investitionen

Anders als Deutschland hat Österreich in den letzten Jahren mit gezielten Konjunkturmaßnahmen gearbeitet. Das Covid-19-Investitionspaket und die nachfolgenden Energiehilfen summierten sich auf knapp zehn Prozent des BIP. Der österreichische Staatshaushalt weist entsprechend höhere Defizite auf, konnte aber dadurch den wirtschaftlichen Einbruch besser abfedern als andere EU-Länder.

Dieser Weg könnte fortgesetzt werden, insbesondere mit Investitionen in die grüne Transformation. Österreichs Ziel, bis 2040 klimaneutral zu werden, erfordert massive Investitionen in erneuerbare Energien, Netzinfrastruktur und nachhaltige Mobilität. Das Umweltbundesamt schätzt, dass für die Erreichung der Klimaneutralität bis 2040 im Zeitraum 2024 bis 2040 durchschnittlich jährliche Gesamtinvestitionen zwischen 46,8 und 64,5 Milliarden Euro erforderlich sind. Die zusätzlich notwendigen Investitionen liegen bei 6,4 bis 11,2 Milliarden Euro pro Jahr, was kumuliert etwa 160 Milliarden Euro über 15 Jahre entspricht.

Gerechtere Verteilung des Wohlstands

Österreich verfügt mit seiner Sozialpartnerschaft über ein bewährtes System der Wohlstandsverteilung. Dennoch hat sich auch hierzulande die Vermögensungleichheit verschärft. Die reichsten fünf Prozent der Österreicher besitzen laut ÖGB rund 84 Prozent des gesamten Vermögens.

Eine progressive Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften könnte zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen freisetzen und gleichzeitig den Konsum stärken. Das potenzielle Aufkommen einer moderaten Vermögenssteuer kann auf jährlich rund fünf Milliarden Euro geschätzt werden – Geld, das in Bildung, Wohnbau und Infrastruktur fließen könnte.

Eine neue wirtschaftliche Normalität gestalten

Die globale wirtschaftliche Stagnation ist kein vorübergehendes Phänomen, sondern eine strukturelle Realität. Anstatt auf die Rückkehr hoher Wachstumsraten zu hoffen, sollten wir unsere Gesellschaften auf eine neue wirtschaftliche Normalität vorbereiten.

Für Österreich bedeutet das, unsere Stärken zu nutzen: ein hohes Bildungsniveau, soziale Stabilität und eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur. Mit gezielten öffentlichen Investitionen in Zukunftsbereiche, wie erneuerbare Energien und einer gerechteren Verteilung des vorhandenen Wohlstands, können wir auch in Zeiten gedämpften Wachstums Wohlstand und Lebensqualität sichern.

Die aktuelle Krise bietet die Chance, unser Wirtschaftsmodell neu zu justieren – weg vom reinen Wachstumsdenken, hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Damit könnte Österreich als kleines, aber innovatives Land eine Vorreiterrolle in der Gestaltung einer post-wachstumsorientierten Wirtschaft einnehmen. (Bernhard Führer, 12.5.2025)